Gastbeitrag

Im Rahmen dieser Lehrveranstaltung wurden Gäste aus verschiedenen Fachrichtungen dazu eingeladen einen Gastbeitrag zu dem Thema „FREI:RAUM“ zu erstellen. Der zweite Beitrag stammt von Josef-Matthias Printschler. Er ist Architekt, Stadtplaner und Raumtheoretiker und lehrt an Akademie der Bildenden Künste Stuttgart in der Klasse für Öffenltiche Räume und Bauten.

Anmerkung zum Text: Der Text ist Teil des im ersten Quartal 2016 erscheinenden Forschungsberichts mit dem Arbeitstitel: „Der weiße Kunststoffstuhl:„Temporäre private Territorien im öffentlichen Raum am Beispiel von Hallschlag/Stuttgart bzw. Territoriale Unschärfe als Katalysator eines Inneren Drucks.“ Hrsg. Hallschlag Laboratory, Stuttgart 2016, www.Hallschlag.org

Die Insel: der unbewusste Raum – Betrachtungen zum Freiraum. (von Josef-Matthias Printschler)

„Ich glaube übrigens, daß sich hinter eurer Angst vor der Versklavung, vor der Tyrannei der Maschine auch eure Hoffnung verbarg, von der Freiheit befreit zu werden, an der ihr nicht selten zu ersticken droht.“ [1]

Das Wort >Freiraum< – jahrelang habe ich mich dagegen gesträubt – ja dieses Wort sogar mit Nichtigkeit bestraft. Der Zwischenraum, die Grenze und/oder der Raum an sich schienen mir „wichtiger“! Warum das so war? Wahrscheinlich deswegen weil der >Freiraum< im architektonischen Diskurs der „gemeine“ Außenraum ist. Kurzum es war und ist für mich ein Begriff aus dem inflationären diffusen Pool von wiederkehrenden Begrifflichkeiten.[2] Aber vielleicht verdient er genau deswegen eine genauere Betrachtung? Sicher im gegenwärtigen Diskurs hat der Begriff des >Freiraums< – oder zumindest das was mit ihm im Allgemeinen in Verbindung gebracht wird – wieder eine neue Wichtigkeit erlangt – denkt man dabei einfach an die unzähligen initiativen die wie einst David Harvey „ihr Recht auf Stadt“ postulieren – und ihren Anspruch, wie ich meine, in einer >Architektur des Spektakels[3]< materialisieren.

Wir können uns das Feld der Gesellschaft unserer Zivilisation aus Inseln individueller temporärer Zugehörigkeit vorstellen. Diese Inseln formen in sich Gemeinschaften – und grenzen sich nach Außen ab um sich selbst zu definieren und in der Masse der Inseln zu identifizieren. Der Eindruck wird zum Ausdruck und ein Anfang ist nur schwer bis gar nicht auszumachen. Durch das Zusammenwirken von innerem und äußerem Druck werden diese Inseln einerseits als Teil des gesellschaftlichen Prozesses gebildet, definieren aber im selben Moment die Gesellschaft und ihr Gefüge.

„Ähnlich verhält es sich mit einem Haus. Was wir seine Struktur nennen, ist die Struktur und der Aufbau nicht der einzelnen Steine, sondern der Beziehungen zwischen den einzelnen Steinen, die es bilden; es ist der Zusammenhang der Funktionen, die es bilden; es ist der Zusammenhang der Funktionen, die die Steine im Verbande des Hauses füreinander haben.“ [4]

Ist die Insel der einzige wahre >Freiraum<? Es scheint fast so, zumindest will uns das unsere Wirklichkeit glauben machen! Unabhängig der Perspektive – ob >Innen< oder >Außen< – ist die Insel – der gefasste Raum im Nichtraum der je nach Seite den Eindruck von Freiheit oder Unfreiheit vermittelt. Und sei es am Ende nur die Freiheit sich selbst an (s)einem Ort einzusperren. Der gefasste Raum – ein Raum der klare Grenzen besitzt, sich nach >Außen< definiert und im >Inneren< eine scheinbar individuelle Bewegung zulässt. Natürlich nur innerhalb der Grenzen – die ihrerseits selbst wieder von der „Inselgemeinschaft“ – die Freiraum sucht – gebildet werden.

„Innen und Außen treten erst im euklidischen Raum als getrennt auf, sie bilden hinsichtlich des Wahrnehmungserlebens aber eine vorgängige Einheit.“ [5]

Von der Geburt bis zu dem Moment der Selbsterkenntnis, bis zum Beginn der Bewusstseinsherrschaft ist der Mensch unfrei – oder ist er dem >Freiraum< innerhalb dieses Zeitraums, dieses Moments am nächsten? Man bewegt sich in einem räumlichen Ether, die Eindrücke prasseln diffus auf einen ein, alles ist Eins und man selbst ist Teil davon – >Innen< und >Außen< verschmelzen im kindlichen Gemütszustand zu bis zu dem Beginn der Endlosschleife, dem Zeitbewusstsein. Denn wenn man das Übergangsobjekt [6] hinter sich gelassen hat und der Prozess der Kausalität in Gang gesetzt ist – beginnen die endlosen Schleifen die am Ende die so genannte Persönlichkeit, das Individuum in der permanenten Gegenwart ausmachen. Die Freiheit ist mit der Geburt das spontane Ereignis das zu Beginn mit einem lauten Knall beginnt! – und dann? – man entfernt sich schon wieder…

„Denn mein Glück bestand tatsächlich aus dem gleichen Geheimnis wie das Glück der Träume, es bestand aus der Freiheit, alles irgend Erdenkliche gleichzeitig zu erleben, Außen und Innen spielend zu vertauschen, Zeit und Raum wie Kulissen zu verschieben.“ [7]

Ab dem Moment der Selbsterkenntnis – ausgelöst und beschleunigt durch das Verschwinden – entwickelt sich die Möglichkeit einer abstrakten räumlichen Vorstellung – von gedachten, imaginierten Räumen und Objekten. Man lernt eine Sprache – die ihrerseits unseren Raum der Gedanken prägt. Die Sprache ermöglicht uns abstrakte komplexe Zusammenhänge zu „denken“ bzw. in Beziehung zu setzen – Dinge (die aus Sprache bestehen) vor dem oft zitierten inneren Auge zu visualisieren, um sich in Gedanken(Räumen) zu verlieren. Der innere Monolog wird durch die Sprache zur Botschaft während die Botschaft ihrerseits wiederum, von dem Medium, der Sprache getragen wird.

„Der Sinn des Boten ist die Botschaft.“ [8]

Die Sprache ist das Interface und der Raum zur interindividuellen Kommunikation – dem gedanklichen Austausch. Sie prägt unsere >Innere< wie >Äußere< Kommunikation – fasst sie in die Grenzen der Möglichkeit die uns unserer jeweiliger Kulturkreis zur Verfügung stellt. All das sind in sich geschichtete Räume der gegenseitigen Beeinflussung und sie alle ermöglichen uns einen gewissen >Freiraum< – aber nur innerhalb ihrer konstruktiven Grenzen. Und sie alle – der Raum der Zivilisation, der Landschaftsraum, der Raum der Gemeinschaft, das Territorium des Staates, der Stellplatz am Campingplatz um nur wenige zu nennen – sind so etwas wie Inseln und suggerieren uns einen individuellen den Inselkonventionen angepassten Freiraum.

„Von klein auf ist man Befehle gewöhnt, aus ihnen besteht zum guten Teil, was man Erziehung nennt; auch das ganze erwachsene Leben ist von ihnen durchsetzt, ob es nun um die Sphären der Arbeit, des Kampfes oder des Glaubens geht.“ [9]

Die jeweiligen gesellschaftlichen Konventionen bilden die Grenzen zum >Freiraum< unserer Zivilisation. Sie regeln das >Innen< und das >Außen< bzw. das so genannte „private“ und „öffentliche“ Verhalten jedes einzelnen. Der Konstitutionsdruck der Zivilisation wird zum Selbstzwangvermögen des Indviduums – um sich im selben Augenblick als ein Territorium zu materialisieren. [10]Das bedeutet für uns – egal auf welcher Insel wir uns befinden, man muss sich den Regeln der jeweiligen Inselgemeinschaft anpassen. Die Wirklichkeit der Freiheit wird durch die Mehrheit einer Gruppe definiert. Sich anzupassen ist eine Errungenschaft unserer Zivilisation und gleichzeitig Teil dieser – also untrennbar mit ihr verbunden. Hat man nicht die kulturabhängigen zivilisatorischen Fähigkeiten – oder hat man einfach keine Lust dazu sich anzupassen – geht man als Gruppe oder Individuum in die Klause. Unterwirft sich seinen eigenen Regeln und Konventionen die parallel zu denen der Wirklichkeit der Mehrheit existieren. Man wohnt parallel auf der gleichen Insel bzw. am selben Ort aber in verschiedenen Räumen.

„Das ist der gemeinsame Nenner aller Kulturen, die Quelle der Normalisierung des Verhaltens in Ritualen, in allen Geboten und in jedem Tabu: Überall soll alles einem einzigen Maßstab gehorchen.“ [11]

Sprechen wir von >Freiraum< – muss es dann nicht der Raum sein in dem jeder die Freiheit besitzt zu tun was er will? Also ein Raum ohne Konventionen – ohne Maßstab, der Maßstabslose Raum, der Raum ohne Eigenschaften!? Manche denken jetzt vielleicht an das Internet – aber das Internet ist unabhängig von seiner zweifellosen Überwachung – durchzogen von Maßstäben. Dieser immaterielle Raum – das Internet – wird von Maßstäben gebildet und verlangt gleichzeitig in seinem Inneren durch seine Benutzer und seine Benutzung wieder nach neuen Maßstäben. Vielleicht der „White Cube“ als Raum ohne Eigenschaften? Niemals…
Oder ist es die Freiheit sich die Wirklichkeit so auszumalen wie man will? Das Wollen scheint im Bezug zur Freiheit essentiell und wichtig zu sein. Zumindest bei Robinson Crusoe hat diese Annahme eine Berechtigung. Aber selbst den >Freiraum< nur zu imaginieren bedeutet ihn innerhalb unserer Grenzen zu denken und macht ihn automatisch zum unfreien Raum.

Um es noch einmal zusammen zu fassen – man kann sagen, dass es im physischen euklidischen Raum so etwas wie eine Bewegungsfreiheit gibt – also eine operative Zugänglichkeit von Räumen. Ich kann den Raum betreten und deswegen ist er ein >Freiraum<. Und sofern man das notwendige Kapital besitzt ist es möglich physischen aber auch psychischen Raum sein eigen zu nennen. Zu klären welche Mechanismen hinter der Raumaneignung stecken führt hier in diesem Rahmen zu weit – deswegen wollen wir davon ausgehen das wir genügend Kapital besitzen um uns einen realen physischen >Freiraum< unserer Träume anzueignen. Reicht dann noch das Loft? – oder müssen wir dann gleich das ganze Gelände, das Gebiet bzw. das Grundstück und am besten auch noch die Nachbarschaft bis hin zum Stadtteil kaufen? Damit wir machen können was wir wollen? Und sei es nur Lärm, sofern man das will…

Befindet man sich nicht alleine im Raum ist es automatisch kein >Freiraum< mehr. Die Wirklichkeit definiert sich durch das Gegenüber und wird deswegen zum unfreien Raum, zum geteilten Raum ob sie will oder nicht. Und wer jetzt meint ich will behaupten es gibt keinen >Freiraum<, der hat recht! Denn wie schon erwähnt – selbst der gedankliche, immaterielle psychische Raum ist nicht frei weil er auf der Insel, der Kultur, der Sprache, der Raumwahrnehmung und der Sozialisation sitzt. Unsere Freiheit beschränkt sich auf eine Insel, im Idealfall auf eine Inselkette und ist im Endeffekt vielleicht einfach die alltägliche Wohnung die für uns außerhalb des so genannten >draußen< ist.

Zu behaupten es gibt überhaupt keinen >Freiraum< scheint mir dann doch zu dystopisch – und so ein Bild wollen wir nicht malen – schon allein im Angesicht der selbst erfüllenden Prophezeiung. Weniger scheint in diesem Fall mehr und wir müssen uns auf die Suche nach dem >Freiraum< im alltäglichen machen. Das Wort >Freiraum< aus seinem bedeutungsschwangeren Dasein befreien und es als das verstehen was es für uns in unserer Wirklichkeit sein kann – und wenn es am Ende die Müllinsel ist.

Zum jetzigen Zeitpunkt könnten wir den Freiraum als ein Freispiel verstehen – der offene Raum zwischen vielen geschlossenen. Eine Ausnahmesituation in einem Kontinuum bzw. das Kontinuum selbst als Niemandsland – in einem permanenten Fluss zwischen Zukunft und Vergangenheit. So könnten wir auch behaupten, dass der >Freiraum< – der eigentliche Raum ohne Zeit und damit ohne Bewusstsein ist. Der unbewusst zugängliche Raum – die unbewusste Insel, der unbewusste Raum – wird zum einzig wahren >Freiraum< im Meer der Alltäglichkeit. In letzter Konsequenz erkennen wir, dass der unfreie Raum die Insel ist und der Zwischenraum, das Niemandsland, die Grenze den eigentlichen >Freiraum< bildet der uns in unserer Bewegung am wenigsten einschränkt. Deswegen beruft sich mein >Freiraum< auf das Recht auf Raum als räumliche Existenz – als Mensch in unserer natürlichen weil kausalen aber artifiziellen Wirklichkeit – dem Land, der Stadt, dem Viertel, dem Block, dem Haus, dem >Freiraum<!

Josef-Matthias Pintschler, Stuttgart 10/2015

 

Literatur:

CANETTI, E. (1960). Masse und Macht. Hamburg, Claassen.

DÜNNE, J., GÜNZEL, S., DOETSCH, H., & LÜDEKE, R. (2006). Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main, Suhrkamp.

ELIAS, N., & SCHRÖTER, M. (1987). Die Gesellschaft der Individuen. [Frankfurt am Main], Suhrkamp.

HARVEY, D., & DINÇER, Y. (2013). Rebellische Städte: vom Recht auf Stadt zur urbanen Revolution. Berlin, Suhrkamp.

HESSE, H. (1932). Die Morgenlandfahrt: eine Erzählung. Berlin, S. Fischer Verlag.

HONNETH, A. (2013). Das Ich im Wir Studien zur Anerkennungstheorie.

KOLLOQUIUM „STADT UND RECHT IM MITTELALTER/LA VILLE ET LE DROIT AU MOYEN AGE“, MONNET, P., & OEXLE, O. G. (2003). Stadt und Recht im Mittelalter. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht.

LEM, S. (1973). Die volkommene Leere. Frankfurt am Main, Insel.

LEM, S. (1984). Also sprach GOLEM. Frankfurt am Main, Insel Verlag.

[1] Lem 1986, 84.

[2] Anm. d. Verf.: Hin und wieder wiederholt man sich!

[3] Anm. d. Verf.: Die „Architektur des Spektakels“ ist zum jetzigen Zeitpunkt (WIP) meiner Überlegungen die gegenwärtige Architektur – die sich in letzter Konsequenz durch eine Rechtfertigung vor unserer Konstitution in einem räumlichen Spektakel materialisiert. Mehr dazu im Metatektur.org Process:zine 006, „Die Architektur des Spektakels“, Veröffentlichung voraussichtlich 04/2016.

[4] Norbert Elias 1987, 37.

[5] Dünne, Günzel 2006, 107.

[6] Vgl. Honneth 2010, 303.

[7] Hesse 1987, 338.

[8] Lem 1986, 58.

[9] Canetti 2006, 357.

[10] Anm. d. Verf.: Lebensraum-> Wohnraum->Block->Viertel->Bezirk->Stadt->Landkreis->Region->Staat->Kontinent…

[11] Lem 1983, 82.

 

Titelbild: Hallschlag, Stuttgart 08/2015

 

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